Präses Henrik Otto zur Jahreslosung 2024

ALLES, WAS IHR TUT, GESCHEHE IN LIEBE. 1. Korinther 16,14

 

„In Liebe“ – das sind zwei gute Worte! Sie gefallen mir, weil sie zu Herzen gehen. Briefe in englischer Sprache werden gelegentlich so unterschrieben: „with love“ = „in Liebe“. Ich bekam einmal einen solchen Brief nach einem Schüleraustausch. Ich hielt es für eine Liebeserklärung und war gerührt. Später wurde mir klar, dass diese Worte so exklusiv nicht gemeint waren, eher im Sinne von „Alles Liebe!“ oder „Liebe Grüße!“.

Es fällt auf, wie viel wir von Liebe sprechen und schreiben. Ob das Ausdruck von Sehnsucht ist? Bestimmt. Dabei haben diese fünf Buchstaben nicht immer den gleichen Inhalt, schon gar nicht die gleiche Intensität. Als Gruß unter einer Mail sind sie nett. Als Worte unter Liebenden sind sie ein Genuss. Als Programm unter Feinden können sie die Welt verändern.

Bei einem Blick auf die Welt wird allerdings schnell klar, dass es so einfach wohl nicht ist. Der Aufruf zu mehr Liebe wirkt da leicht sentimental oder sogar naiv. Man mag es gar nicht mehr aufzählen, was uns besorgt: Kriege, Terror, Artensterben, Klimaschutz, Fachkräftemangel und dazu all die Herausforderungen einer Welt im Wandel. Macht es da überhaupt einen Unterschied, was einzelne Menschen so tun, und mit welcher Motivation?

Treten wir also noch mal einen Schritt zurück. Die Jahreslosung steht in einem größeren Zusammenhang, steht unter den Schlussbemerkungen des ersten Briefes an die Korinther. Vielleicht finden wir dort ein Modell, eine Gemeinde, die von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt ist!

 

GOTT BEGEGNET
In der Wüste aber begegnet ihr Gott mit zwei Fragen: „Woher kommst du?“, „Wohin gehst du?“. Die erste Frage kann Hagar noch beantworten, die zweite nicht. Sie ist ziel- und hoffnungslos. Gott sagt ihr, sie solle sich unter Sarai demütigen und verspricht, aus ihr ein großes Volk zu machen. Der Sohn soll „Gott hört“ (Ischmael) heißen. Die Zukunftsprognosen über ihn klingen durchwachsen, denn er wird sich wie ein Wildesel benehmen und auch so angesehen werden.

Aber Hagar ist angerührt, denn Gott ist ihr begegnet. Er hat sie angesprochen, er hat sie gehört und er hat sie gesehen. Und in allem, was Gott darin tut, kommt Wahrheit und Gnade zum Ausdruck. Hagars Schuld kommt ans Licht, aber zugleich blickt Gott mit einem gnädigen Auge auf sie! Hagar sagt: „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (1. Mose 16,13). Und es ist kein bedrohlicher Blick, sondern ein wahrhaftiger, befreiender, gnädiger und zukunftsfroher Blick.

Blicke können töten, sagen wir. Blicke mustern von unten nach oben und zurück. Blicke verurteilen. Blicke sind gleichgültig und oberflächlich. Blicke können durchdringen. Und Blicke können lieben und wohlwollend sein. Sie können strahlen und befreien.

Gottes Blick hat es Hagar angetan. So wie er sie ansieht, kann sie ihm begegnen. Dieser Blick hat es in der Folge Millionen von Menschen angetan. Sie sind Gott begegnet. Gott sah diese Erde und das führte dazu, dass Jesus Christus Mensch wurde. Denn Gott sah, dass diese zerschundene und verlorene Welt einen Retter braucht. Als Jesus das Volk sah, jammerte es ihn, es ging ihm durchs Herz und er sah die Wahrheit, denn sie waren so erschöpft wie Schafe ohne Hirten (Matthäus 9,36).

 

EXPLOSIVE STIMMUNG IN KORINTH
Die Stimmung in Korinth war nach allem, was wir wissen, häufig explosiv. Rund um die Gemeindegründung lief es eigentlich recht gut, sogar die Regionalverwaltung verhielt sich immerhin neutral zu diesem Start-up (nachzulesen in Apostelgeschichte 18). Und doch war Zündstoff schon von Anfang an vorhanden. Zu unterschiedlich waren die Leute, die dort zur Gemeinde gehörten: Auf der einen Seite Menschen mit jüdischem Hintergrund, andere mit heidnischen Traditionen; wohlhabende Leute, die sich um das tägliche Leben keine Sorgen machten, aber auch viele einfache Leute, die kein großes Ansehen hatten, sogar Sklaven. Das erzeugte Sprengstoff!

Außerdem gab es Parteiungen und in diesem Zuge auch eine gewisse Heldenverehrung (1. Korinther 1,10-12), weil sich die einen auf Petrus beriefen, andere auf Apollos – sogar Paulus hatte seinen Fanklub. Untereinander standen die verschiedenen Gemeindegruppen im Dauerclinch. Das Thema der Polarisierung ist also nicht ganz neu! Auch gegen den Apostel selbst wurde offen polemisiert und seine Integrität infrage gestellt. Auf den ersten Blick ist das nicht das, was man eine liebevolle Gemeinde nennen würde.

Trotz all dieser menschlichen und theologischen Schwierigkeiten, zu denen Paulus Stellung nehmen muss, endet sein Brief nicht frustriert oder zynisch. Im Gegenteil: Er ruft diese streitbare und anstrengende, aber auch liebenswerte und bunte, immer leicht chaotische und kämpferische Gemeinde zu Taten der Liebe auf. Und das ist nicht als unerreichbares Ideal gedacht, sondern als schlichte Aufforderung. Das finde ich ermutigend. Offensichtlich sind auch unter unvollkommenen Umständen, quasi gegen den Trend, Wirkungen der Liebe vorstellbar.

 

DIE LIEBE HÄLT ALLES ZUSAMMEN
Bemerkenswert häufig spricht Paulus von „Agape“, der göttlichen Art zu lieben. Und in keiner seiner Schriften so häufig wie an die Gemeinde in Korinth. Es ist klar, woher diese Liebe kommt: aus dem Wesen Gottes. Niemand sonst liebt bedingungslos. Im Hintergrund jeder Aufforderung, zu lieben, steht ein Übermaß an liebevoller Zuwendung Gottes. Wie tief diese Liebe geht, erfahren wir am Karfreitag. Wie sie alle Grenzen sprengt, am leeren Grab. Sie bleibt für immer und hält alles zusammen.

Diese Liebe ist stark. Sie kann es mit der Welt aufnehmen. Sie überwindet das Böse und verwandelt Tod in Leben. Sie ist das Licht am Ende des Tunnels – und auch mittendrin! Solche Liebe ist der Grund, warum die Jahreslosung 2024 ins Leben und nicht ins Poesiealbum gehört. Ohne sie könnte niemand, wirklich niemand auch nur annähernd alles in Liebe tun. Aber mit ihr werden Gemeinden in Korinth und überall zur Hoffnung für die Welt.

Tatsächlich ist Gottes Liebe auch der einzige Grund, warum Gemeinden beieinanderbleiben. Denn es gäbe sicher viele Gründe, sich zu trennen. Manchmal muss man sich bekanntermaßen regelrecht ertragen! Auch das geht nur in Liebe, wenn es aufbauend sein soll (Epheser 4,2). Gemeinden haben einen hohen Liebesbedarf, weil sie unterschiedlichste Menschen integrieren, verschiedene Meinungen aushalten, Benachteiligten Ansehen verleihen, für Schwache einstehen und selbst unter Druck nicht mit Feindschaft reagieren. Die Liebe hält alles zusammen.

Bei einem so hohen Bedarf an Liebe muss eine Gemeinde aus dem Vollen schöpfen können. Ich bin überzeugt, dass die Gegenwart des Heiligen Geistes genau so zu denken ist. Er ermöglicht das. Er wirkt ohne Unterlass auf die einzelnen Glaubenden und die Gemeinden als Ganze ein, erfüllt sie mit Ermutigung, Widerstandsfähigkeit, Hoffnung und Vertrauen, sodass sie zur Liebe fähig werden.

Diese ganzheitliche Zuwendung kannst du körperlich erfahren durch eine Umarmung oder eine Hand auf deiner Schulter. Du erfährst sie emotional durch Wertschätzung und Entlastung oder tiefe Freude. Sie fordert dich heraus durch Lehre und Erkenntnis, die dem Wort Gottes entspringen. Verstand, Wille und Gefühl werden beständig getriggert und manchmal geflutet von der Aktivität des Geistes Gottes. So hält er alles zusammen.

 

ALLES, WAS IHR TUT
Und dann soll es erlebbar werden. Die Jahreslosung lädt uns nicht dazu ein, über Liebe zu philosophieren, sondern sie zu tun. Und zwar durchgehend. Alles, was ich tue, soll von Liebe bestimmt sein. Wow. Wir können es ja mal durchspielen, so unwahrscheinlich es klingt. Vielleicht so: Wenn Gottes Geist mich selbst und meine Gemeinde mit Ermutigung, Vergebung, Hoffnung, Wegweisung und Vertrauen flutet, also kurzum mit Liebe, dann sind wir alle miteinander geduldig und freundlich, sind großzügig und plustern uns nicht auf. Wir bleiben höflich, suchen nicht den eigenen Vorteil, werden nicht bitter und können Böses vergeben. Wir freuen uns nicht an Ungerechtigkeit, sondern an der Wahrheit. Wir ertragen alles, hoffen bis zum Schluss und halten am Vertrauen fest.

Ich bin überzeugt, in so einem Umfeld möchte jeder gerne leben! Und vielleicht wird sich sogar hier und da ein Stückchen Welt in den wärmenden Lichtkreis einer solchen Gemeinde begeben. Wo Dinge offensichtlich aus Liebe geschehen, ist das sehr anziehend. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann eben nicht verborgen bleiben.

Ich habe überlegt, ob das wohl ein sehr anstrengendes Jahr wird unter dieser Losung. So viel Aufforderung, so viel Erwartung. Die Antwort ist für mich aber klar: Nein, im Gegenteil. Es gibt eigentlich nur Gewinner, wo Dinge aus Liebe geschehen. Selbst wenn es zeitlichen Mehraufwand oder innere Arbeit bedeutet, führt das zu einem unvergleichlichen Reichtum. So ist gelebtes Christsein eine gute Nachricht für uns alle und die Welt.

Mit herzlichen Grüßen, Ihr
Henrik Otto | Präses Bund FeG| praeses.feg.de